




































































































Falls wir die Ostertage nicht dazu „nutzen“, im Stau zu stehen, bieten sie sich immer wieder als Hockeyanalysezeit an. Ich versuche in der Folge, neue Erkenntnisse zu thematisieren. Nicht nur die Digitalisierung verändert unseren Alltag rasend schnell, auch das Eishockey ist gänzlich anders als noch vor 10 Jahren und die Entwicklung geht weiter. Gibt es neue Erkenntnisse, Tendenzen, Entwicklungen Beobachtungen, „Lessons Learned“?
In kaum einer Mannschaftssportart hat sich die durchschnittliche Qualität in den letzten 20 Jahren derart krass entwickelt wie auf der Position des Eishockeygoalies. Noch nie gab es derart viele gute Goalies im Welteishockey wie heute und selbst die aktuellen Nrn. 3 oder 4 in NHL-Organisationen wären vor 20 Jahren Vezina-Trophy-Gewinner gewesen. Unerfreulich für die vielen guten Goalies: Es gibt viel zu wenige gut bezahlte Arbeitsplätze. Die rasende Qualitätsentwicklung hat aber wenigstens ansatzweise eine logische Erklärung. Wie ich anlässlich einer früheren Kolumne erklärt habe, lässt sich die Goalieposition durch seriöse Analysen und entsprechende Methodik/Didaktik verhältnismässig einfach erlernen und je mehr seriöse Daten wir zur Verfügung haben und diese durch qualifizierte Analysten auswerten lassen, desto eher ist die Wahrscheinlichkeit, dass kompetitive Goalies „produziert“ werden und dies ist in vielen Ländern seit einigen Jahren der Fall. Aktuell sind die Tschechen in einem guten Lauf, sie stellen pro Jahrgang jeweils zwei, drei Goalies mit Weltklassepotenzial.
In Russland werden aktuell grosse Anstrengungen unternommen, um ihr Eishockey wieder ganz an die Spitze zu führen. Es wird sehr viel Geld in die Eishockeyinfrastruktur investiert und mittlerweile stehen auch viele der weltbesten Ausbildner im Sold einer KHL-Organisation und/oder im Beraterstab der Verbandsausbildner. Erste Früchte können geerntet werden: Bei den U16- und U17- Auswahlen orte ich einen sehr hohen Durchschnittslevel betr. Skating und Stickhandling, insbesondere fällt auf, dass bereits sehr junge russische Talente extrem gut Backhand spielen, ein Qualitätsunterschied betreffend Scheibenkontrolle auf der Forehand oder Backhand ist kaum zu erkennen; dies ist ein spürbarer Unterschied im Vergleich zu anderen europäischen Talenten.
Im modernen Top-Eishockey wird sehr strukturiert und organisiert gespielt, der gesamte Fünferblock versucht nach Möglichkeit, immer mehr eigene Spieler in Pucknähe zu versammeln als der Gegner. In der Schweiz pflegt z.B. der SC Bern einen derartigen Stil. Als Gegenmittel werden Speed in der neutralen Zone und Scheibenbesitzhockey zelebriert, wie z.B. Biel. Das Ziel gegen eine derart durchstrukturierte und durchorganisierte Mannschaft muss sein, möglichst viele Chaosszenen zu kreieren, bei denen der Faktor Zufall überhand nimmt, d.h. Das Geschehen kann nur noch sehr bedingt kontrolliert werden, auch nicht durch eine noch so ausgeklügelte Spielorganisation. Hierzu nehmen im modernen Eishockey vor allem die Verteidiger – bedingt aber auch die Stürmer - eine Schlüsselposition ein.
In früheren Kolumnen habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die Topnationen neuerdings sehr viele so genannte Offensivverteidiger, Verteidiger mit viel Speed und exzellenten Handskills, produzieren. Auch am kürzlichen U17-Turnier in Basel haben die Schweden wie auch die Finnen erneut gezeigt, dass sie in der Ausbildung offensichtlich sehr viel Wert auf mobile, technisch gut beschlagene Verteidiger mit herausragenden Handskills setzen. Dies auch darum, weil die Verteidiger im modernen Eishockey eine Schlüsselrolle innehaben betreffend das Kreieren von Chaos in den gegnerischen Abwehrreihen. Das moderne Verteidigerzauberwort heisst: Bringe die Schüsse auf’s Tor, vermeide, dass deine Schüsse blockiert werden können. Jeder Schuss in Richtung Tor der nicht geblockt wird kreiert Chaos, die Schüsse müssen nicht besonders hart sein aber sie müssen aufs Tor kommen, damit sie abgelenkt werden können, oder wenigstens unkontrolliert abgewehrt durch den Goalie oder einen Verteidiger und schon entsteht Chaos. Damit die Verteidiger ihre Schüsse aufs Tor bringen benötigen sie gute Puckskills und auch die Fähigkeit, mit kleinen Körpertäuschungen Sekundenbruchteile zu gewinnen. Sie müssen vor dem eigentlichen Schuss z.B. mit einem Toe-Drag oder einer kleinen Finte den Schusswinkel minimal verändern, um dann blitzschnell zu feuern. Wenn sie diese Fähigkeiten haben, dann erhöhen sie die Chance enorm, Chaos in den gegnerischen Reihen bewirken zu können. Hierzu müssen die Verteidiger exzellente Schlittschuhläufer sein mit gleichzeitig exzellenten Handskills. Nur dann gelingen ihnen diese kleinen aber feinen und effizienten Schusslinienveränderungen durch kleine „Dekes“ und „Moves“ mit den Füssen, den Händen und Augen.
Den Speed habe ich bereits in früheren Kolumnen wiederholt angesprochen und das bleibt auch so. Speed – und damit ist nicht nur Skating- sondern auch gedanklicher Speed gemeint – ist nach wie vor ein Zauberwort im modernen Eishockey. Hinzu kommt Kreativität, es geht auch bei den Stürmern darum, Chaos zu kreieren. Eine interessante Beobachtung hierzu ist, dass immer mal wieder die gegnerischen Goaliepads und die unteren Hartplastikbandenumrandungen hierfür eingesetzt werden, ähnlich wie beim Billiard. Hier ein Beispiel eines Verteidigers der diese unübliche Variante nutzt.
;feature=youtu.be
Die Bandenumrandung wie auch die Goaliepads werden bei vermeintlich tief und hart gehaltenen Schüssen als Billiard-Passstation „missbraucht“. Der Puck wird z.B. absichtlich knapp am rechten Torpfosten flach vorbeigeschossen, damit er in einem gefährlichen Winkel von hinter dem Tor auf den heranstürmenden Flügel auf der anderen Seite in Slotnähe zurückspediert wird. Auch die Goaliepads können bei cleveren Stürmern mit flachen Schüssen sehr bewusst als „Billiardbande“ genutzt werden; auch hier geht es darum, Chaos durch unerwartete Spielzüge oder Einzelaktionen zu kreieren.
In der Schweizer Eishockeymedienlandschaft tut sich was. Noch nie in einer Saison habe ich derart vielschichtige, aufwändige und differenzierte Analysen gelesen, gesehen und/oder gehört wie in dieser Spielzeit, dies hat mich sehr gefreut! Viele dieser Analysen versuchen Vergangenes zu erklären und Künftiges vorherzusehen. Etwas ernüchternd, oder – je nach Sichtweise – erfreulich ist, dass die Analysen und die daraus abgeleiteten „Weisheiten“ zu oft ins Leere laufen. Es gibt unzählige Beispiele hierfür. Ich verweise an dieser Stelle nur auf zwei (zwei weitere habe ich in die kürzliche Osterkolumne „SCB-Laudatio“ eingepflegt: „Wenn der SCB mal in Führung liegt dann ist ihm der Sieg nicht mehr zu nehmen weil es das ausgeklügelte Jalonen-Spielsystem dem Gegner nicht zulässt, den Führungsriegel des SCB zu durchbrechen.“
Aus irgendwelchen Gründen war aber exakt dieser SCB in den ersten ca. 10 Playoffspielen so schlecht im Verwalten eines Vorsprung wie kaum ein anderes Team... als aber die ersten Analysen versuchten zu erklären, wie der SCB-Führungsriegel geknackt werden kann, fanden die Berner zu den ursprünglichen Tugenden zurück. Selbstverständlich werden sie uns sagen, dass dies alles sehr wohl nachvollziehbar und erklärbar sei... und dies tun sie ohne rot zu werden ;-) Zweites Beispiel: Biel war eine Top4-Regular-Season Boxplay-Mannschaft. Eine „Weisheit“ besagt, dass die Special-Teams die Spiele entscheiden – was übrigens nur sehr bedingt stimmt, 5vs5 ist viel wichtiger – Biel ist im Boxplay in allen Spielen gegen Ambri und in den ersten Spielen gegen Bern gewaltig unter die Räder gekommen... hat letztlich aber die Spiele meistens gewonnen. Just in dem Moment als das Bieler-Boxplay gegen Bern wieder normale Werte gezeigt hat, wurden die entscheidenden Spiele verloren und auch diesbezüglich wird uns jemand eine Erklärung liefern ohne rot zu werden ;-). All dies liegt nicht an den aufwändigen und auch von mir geschätzten Analysen, sondern einerseits an der Unberechenbarkeit im Hockey wenn zwei einigermassen ähnlich potente Teams gegeneinander antreten und andererseits an der noch immer feststellbaren Schwäche dieser Analysen, die sich noch zu oft auf zu geringem „Sample-Size“ abstützten, um eine seriöse, ernst zu nehmende Konklusion anbieten zu können.